Als ich von der Aktion »Lichtgrenze« zum 25-jährigen Jubilium des Mauerfalls erfuhr, wusste ich sofort, dass ich dabei sein wollte. Zu Fuß wollte ich die gesamte, mit Luftballons beleuchtete Strecke von gut 15 Kilometern im Innenstadtbereich ablaufen. Um 13 Uhr gestern startete ich am S-Bahnhof Bornholmer Straße. Bei bestem Herbstwetter mit kühlen Temperaturen und blauem Himmel wartete ich oben auf der Bösen Brücke am S-Bahn-Ausgang auf weitere, mir bis dahin unbekannte Mitwanderer. Trotz der erneut streikenden Bahn waren viele Menschen unterwegs, die sich dieses Ereignis nicht entgehen lassen wollten. Ich vertrieb mir die Wartezeit mit Fotografieren, als ich im Augenwinkel beobachtete, wie ein Mann einen Buchstaben unter die Beschriftung der S-Bahn-Station Bornholmer Straße hielt. Mit lang ausgestrecktem Arm drückte er ein metallenes, angerostetes, kleines »a« nach oben unter den Namen, der in gleicher Schrift in schwarz am S-Bahn-Eingang prangte. Mit Stolz erzählte er, dass er diesen Buchstaben an jenem geschichtsträchtigen Tag zur Erinnerung mitgenommen hatte. Die gesamte Station war damals heruntergekommen, die Scheiben in den Türen zerborsten und der Putz bröckelte von den Wänden. Die Menschen um mich herum, die diese Szene ebenfalls beobachtet hatten, standen mit einem glücklichen Lächeln im Gesicht da. Niemand sagte etwas. Doch die Augen sprachen von Bewunderung. Behutsam nahm der Mann das »a«, das den Anfang einer neuen Zeit bedeutet hatte, wickelte es in Luftpolsterfolie ein und verstaute es in seinem Rucksack.
Nach und nach trafen die sieben Mitwanderer ein – Mitwanderinnen. Auf der Internetseite, auf der ich die Wanderung eingestellt hatte, hatten sich fast nur Frauen gemeldet. Ein Mann wollte sich uns erst im Laufe der Strecke anschließen.
Im Spaß fiel zu Beginn gleich die Frage, wer denn woher komme und es stellte sich heraus, dass wir fast alle aus dem Osten kamen, nur zwei aus dem Westen. Im Spaß deshalb, weil wir an diesem Tag keine Mauern aufbauen wollten, sondern gemeinsam dem Fall der Mauer Gedenken wollten.
Am Ende der Bösen Brücke standen einige Stücke der Mauer. Viele Informationstafeln und eine große Leinwand waren aufgebaut worden, auf der immer wieder emotionale Bilder der Grenzöffnung gezeigt wurden. Wir folgten den Treppenstufen hinunter, dann entlang den Gleisen Richtung Innenstadt. Durch die etwa drei Meter hohen Gestänge mit aufgesetzten weißen Ballons war der Weg so gekennzeichnet, dass man ihn nicht nur verfehlen, sondern in der Ferne sehen konnte, wenn er einen Knick nach links oder rechts machte. Zudem tauchte der Fernsehturm mit seinem Nadelkopf immer wieder auf und diente als beliebtes Fotomotiv.
Es dauerte nicht lange, bis wir die erste verloren hatten. Und man merkte, wie sich zwei Grüppchen heraus bildeten, einmal drei und einmal vier, die sich einander besonders gut verstanden. Und so kam es dann, dass wir uns an der Gedenkstätte Bernauer Straße aus den Auge verloren hatten. Die Vierergruppe, in der ich war, verweilte einen Augenblick an der Gedenkstätte. Wir betrachteten die Mauer, den alten Grenzturm, die Filme auf der Leinwand. Auf der Straße entlang der »Lichterkette« begegnete eine Mitwanderin einem bekannten Gesicht und sie vielen sich freudig in die Arme, fast so, wie es auch damals hätte passiert sein können. Und wie es der Zufall so wollte, gab es keine Minute später eine weitere Begegnung, denn eine andere von uns hatte ihrerseits eine Freundin erspäht. Und so nahm ich mir vor und hoffte, auf dem Weg bis zur Oberbaumbrücke auch einen Freund oder Freundin in die Arme schließen zu können und hielt die Augen offen.
Es geht noch weiter… 🙂