Einmal im Jahr findet in Berlin die große Fahrradsternfahrt statt. Dieses Mal, am 5. Juni 2016, jährte sie sich zum vierzigsten Mal. Auf über 1000 Streckenkilometern wanden sich die Radfahrer unter dem Motto »Fahr Rad!«sternförmig aus allen Himmelsrichtungen der Hauptstadt und dem Umland zum Brandenburger Tor. 140.000 Teilnehmer sollen es laut ADFC gewesen sein. Und damit vermutlich die größte Fahrraddemonstration der Welt.
Dieser Sonntag begann mit frühem Aufstehen. Gegen 7 Uhr war mein Fahrrad startklar. Ich fuhr wenige Kilometer zur S-Bahn-Station Priesterweg, um mir die weitere Anreise zum Startpunkt zu erleichtern. Nachdem ich letztes Jahr ganz im Norden in Oranienburg gestartet war, sollte es nun der Süden und damit Zossen sein. Ich stieg in die S2 nach Blankenfelde. Hinter Lichtenrade fuhr die S-Bahn eingleisig auf einem Damm. Links und rechts bot sich ein Panoramablick über die Felder. Jetzt war ich im idyllischen Brandenburg. Die Bahn war an diesem sonnigen Morgen fast leer und zuckelte zum vorletzten Halt nach Mahlow. Die Ruhe wurde jedoch seit einigen Stationen durch zwei Freunde getrübt, die nach einer durchzechten Nacht lautstark den ganzen Wagen unterhielten:
»Ey, Alter, das ist ja wie auf’m Dorf. Wann sind wir endlich da?«
»Bis Mahlow, wir haben’s gleich geschafft.«
»Wird auch Zeit. Und dann gehen wir noch mit Mama einen Trinken!«
»Nee, geht nicht. Mama ist arbeiten.«
»Wie jetzt?«
»Na die muss Kohle ranholen.«
»Da komm ich extra einmal mit und dann ist Mama nicht da?«
»Ja, kapier’s endlich: Mama muss arbeiten!«
»Mann, ich wollte echt mit Mama was trinken.«
»Hast du’s jetzt mal: Mama ist auf A-R-B-E-I-T.«
»Ach kacke. Und Onkel Werner?«
»Der muss pennen…«
»Ey, warum bin ich überhaupt mitgekommen?«
»Nu komm, wir müssen raus.«
Über leere Bierflaschen stolpernd torkelten sie aus dem Wagen. Stille.
In Blankenfelde erreichte die S-Bahn die Endstation nur wenige Meter vor dem Gleisende auf dem Damm. Eine Reinigungskraft eilte durch die Waggons und wischte grob den Dreck der letzten Nacht vom Boden auf. Auf der anderen Straßenseite fuhr die Regionalbahn, mit der ich auch bis Zossen gekommen wäre. Der angezeigte Zug hatte aber eine Verspätung von einer halben Stunde. Und ich hatte mir sowieso genug Zeit eingeplant, um die geschätzen zehn Kilometer bei dem schönen Wetter entspannt mit dem Rad fahren zu können.
Am Bahnhof fiel mir das für dörfliche Verhältnisse riesige und klobige Parkhaus auf. Im Erdgeschoss gab es zahlreiche Plätze für Fahrräder, auf den zwei Obergeschossen für Fahrzeuge. Alles für die Pendler, die tagtäglich nach Berlin fahren mussten.
In einem Halbkreis umrundete ich das Gebäude, um dann neben den Bahngleisen auf einem Waldweg, der als Radweg ausgewiesen war, nach Süden zu fahren. Die Luft war frisch und die Vögel sangen. Ein Jogger begegnete mir mit seinem Hund und nickte mir zu. Der anfangs akzeptable Weg verschlechterte sich mit jedem Meter. Brandenburger Sand kam häufiger zum Vorschein. Mit meinen schmalen Reifen hatte ich zu kämpfen. Eine echte Alternative hätte es aber auch nicht gegeben. Landstraßen und Hauptstraßen ohne Radweg wollte ich meiden.
Die Sonne flimmerte durch die Bäume der Dahlewitzer Heide und ließ die Schatten der Blätter auf dem Boden tanzen. Mein Blick ging angestrengt nach vorn, um die Sandlöcher ausmachen zu können. Steine und Wurzeln galt es ebenso zu meiden. Das Vorderrad rutschte zur Seite. Ich steuerte gegen. Mit dem Lenker eierte ich hin und her und hielt die Balance. Ein Tritt und die Pedale und es krachte. Das Vorderrad blockierte durch einen Kiefernapfel oder Stock, der unter das Schutzblech nach oben geschossen worden war. Ich kippte auf die rechte Seite und rutschte durch den Sand. Ich hatte Glück im Unglück. Die geringe Geschwindigkeit ließ mich nicht kopfüber über den Lenker fliegen. Kleinere Blessuren nahm ich trotzdem mit. Ich rappelte mich auf und prüfte das Rad. Das vordere Schutzblech war verbeult und die hintere Halterung ausgerissen. Der Haltebügel hing frei in der Luft und konnte bei Unebenheiten wieder auf den Reifen drücken. Ich überlegte, ob meine Fahrt damit beendet wäre, denn ich hatte kein Werkzeug zum Abbauen und nichts zum erneutem Befestigen dabei. Ich klopfte den Sand ab und richtete das Fahrrad auf. Diese unfreiwillige Pause nutzten die Mücken und stachen mir jeweils in die linke und rechte Wade. Ein letzter prüfender Blick auf die Fahrtüchtigkeit des Rades und weiter gings. Kurz darauf stürzte ich noch ein weiteres Mal, weil sich der Bügel nach oben auf den Vorderreifen geschoben hatte. Diesmal war es halb so schlimm, da ich schon damit gerechnet hatte. Jetzt reichte es aber endgültig. Ich wollte weg von diesem Weg, weg von den Mücken. Ich musste raus aus dem Wald und auf eine feste Straße.
Nach der Unterquerung des Berliner Rings kam dann endlich ein befestigter Weg. Über die Goethestraße fuhr ich nach Rangsdorf rein. Am Kreisverkehr vorbei wollte ich die Bahngleise queren und stand vor einer geschlossenen Bahnschranke, hinter der es nicht weiter ging. Hier hatte man die alte kopfsteingepflasterte Straße samt ehemaligem Bahnübergang in eine Sackgasse verwandelt. Zurück zum Kreisverkehr führte der nächste Abzweig durch einen Tunnel unter der Bahntrasse hindurch. Am zweiten Kreisverkehr bog ich rechts Richtung Großmachnower Allee ab und später noch einmal rechts in die Bergstraße. Diese wurde ihrem Namen gerecht und führte leicht bergauf. Am Weinberg vorbei ging es bergab nach Pramsdorf. Ab hier kannte ich die Strecke schon. Jetzt würde gleich ein schönes Stück Landschaft kommen. Rechterhand lag nun der Kiessee, der von Anglern und frühen Badegästen genutzt wurde. Am gegenüber liegenden Ufer jagte ein roter Regionalzug vorbei. Ich fuhr erneut über die Bahngleise und dann über die Luchwiesen und entlang des Königsgrabens. Ich holperte zwar über Betonplatten, aber die freie Sicht über die Wiesen und Felder war einfach großartig. Dazu das nimmer satt werdende Blau des Himmels und ein wildes Vogelgezwitscher. Ich entfernte mich immer weiter von den Bahngleisen und fuhr, abgesehen von vereinzelten Radfahrern in der Ferne, allein durch die Landschaft. Die Wiesen, die hier Namen wie Schafweide, Luchwiese, Hirtenwiese tragen, wurden von schmalen Gräben durchzogen – Zülowgraben, Zülowkanal und Königsgraben. Auf einem Stück, das sich Kahlhorst nennt, standen viele abgestorbene Bäume. Der Weg führte nun an roten Mohnblumen am Feldrand vorbei. Ich umfuhr ein Fabrikgelände, auf dem Wildfruchtverarbeitung statt findet. Dann ging es wieder auf eine glatte Straße nach Dabendorf hinein.
Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass es schon 9:15 war. Der Startzeitpunkt für Zossen lag bei 9:30, so dass ich nun doch in Zeitknappheit geriet. Ich hielt am Bahnhof Dabendorf an und versuchte über mein Smartphone herauszufinden, ob die Strecke hier vorbeikommen würde. Bei der sehr langsamen Interverbindung, die ich hatte, dauerte es einige Minuten, bis das Plakat mit den Treffpunkten und Uhrzeiten geladen hatte. Zu meiner Enttäuschung war Dabendorf nicht als Haltepunkt genannt. Was nun? Die letzte Station mit dem Zug fahren? Aufgeben? Immerhin brauchte ich noch jemanden, der mir mit Werkzeug bei meinem Problem mit dem Schutzblech helfen konnte. Oder nur das Stück bis zur B96 fahren, wo der Pulk vorbei kommen musste und mich dann dort einreihen?
Ich sah noch einmal auf den Plan und bemerkte erst jetzt, dass der Startzeitpunkt für Zossen auf 9:45 angesetzt war. Kurz entschlossen schwang ich mich auf mein Rad und fuhr nun doch entlang der Hauptstraße und auf der B96 auf dem Radweg nach Zossen. Ich war überrascht, wie schnell dann doch das Bahnhofsgebäude auftauchte und ich kurz nach halb zehn eintraf.